Ich versuche neuen Menschen und Situationen Vorurteilsfrei zu begegnen, doch das ist nicht möglich. Vielleicht mag es erleuchteten Menschen wie z.B. dem Dalai Lama gelingen, jedoch behaupte ich, dass auch er nicht immer Schubladenfrei dachte oder denkt. Was mich zu dieser These bringt und warum die Erkenntnis uns letztlich weiterbringt möchte ich dir gerne erläutern.
Die Wahrheit ist: Jeder Mensch nutzt Schubladen. Unser Hirn ist so gebaut, dass es aus Erfahrungen lernt. Jede Erfahrung sorgt in unserem Hirn für ein kleines bisschen mehr Verständnis über unsere Umwelt. In der Psychologie nennt sich das "Attribution". Wir verbinden mit jedem Menschen bestimmte Verhaltenserwartungen, da wir ähnlichen Menschen diese Eigenschaften erfahrungsgemäß zuschreiben.
Stell dir folgende Menschen vor und überlege dir, welche Werte sie haben und wie sie sich verhalten:
Sportlehrerin
Schrebergartenplatzwart
Multimillionärin
Ich bin mir sicher, dass zumindest bei einer Person bestimmte Assoziationen bezüglich ihrer Eigenschaften hochkamen. Was wir mit welchem Begriff und mit jedem Menschen verbinden, ergibt sich aus unseren Erfahrungen. Der Vorteil solcher Generalisierungen ist, dass wir uns viel Energie und "Lernschmerz" ersparen, wenn wir nicht immer wieder alles von neuem verstehen lernen müssen. Immer wieder aufs Neue auf eine heiße Herdplatte zu fassen, um zu lernen, dass dies schmerzhaft ist, würde auf Dauer auch nicht unbedingt das Fortbestehen unserer Spezies fördern. In Schubladen zu denken ist sozusagen der eingebaute Energiesparmodus und sorgt für eine effizientere Interaktion mit unserer Umwelt. Da häufig verlangt wird, dass wir komplett vorurteilsfrei durchs Leben gehen, kannst du dich an dieser Stelle etwas entspannen. Es ist völlig normal, in Schubladen zu denken. Wie solche Schubladen grob aussehen, wird von verschiedenen Typologiemodellen beschrieben, welche manchmal mehr und manchmal weniger wissenschaftlich fundiert sind. Es gibt eine Vielzahl dieser Typenlehren, die ihren Anfang schon in der Antike bei Aristoteles nahmen. Die folgenden zwei Persönlichkeitstypologien sind weit verbreitet und somit interessant, wenn wir die Schubladen von uns und anderen verstehen möchten. Nachfolgend stelle ich sie kurz vor, um dir einen Eindruck zu vermitteln:
DISG- Modell
Eines der bekanntesten Typologiemodelle wurde 1928 vom Psychologen William Moulton Marston entwickelt. In den 1970er Jahren wurde hieraus ein Persönlichkeitstest entwickelt, der weltweit auch in der Personalentwicklung genutzt wird. In seinem DISG-Modell werden vier Grundtypen definiert: D = Dominant, I = Initiativ, S = Stetig, G = Gewissenhaft. Nachfolgende Grafik gibt einen Überblick über die Verhaltenstendenzen von jedem dieser Grundtypen*:

Niemand ist zu 100% nur einem Grundtyp zuzuordnen. Das Modell geht davon aus, dass jeder von uns ein Mischtyp aus allen Vieren ist. Jeder hat also Merkmale von jedem Grundtypen unterschiedlich stark ausgeprägt. Hieraus ergeben sich verschieden Mischtypen mit verschiedenen Bedürfnissen, Schwächen und Stärken.
2. Metaprogramme
Im neurolinguistischen Programmieren gibt es das Typologiemodell der Metprogramme. Metaprogramme sind Denkmuster, die unser Verhalten bestimmen und beschreiben, wie Personen Informationen wahrnehmen, sortieren und werten. Es gibt viele dieser Metaprogramme und jeder von uns bevorzugt bestimmte Denkmuster in bestimmten Situationen. Ein Beispiel hierfür ist das Metaprogramm des Vergleichsrahmens. Menschen suchen hierin eher nach Ähnlichkeit (auch Gleichbeispielsortierer genannt) oder eher nach Unterschieden (auch Gegenbeispielsortierer genannt). Gleichbeispielsortierer fragen sich, warum die These des Gesprächspartners stimmen kann und sagen häufig “Stimmt”, “Das kenne ich”, “Das habe ich auch schon erlebt”. Gegenbeispielsortierer starten ihre Sätze mit “Ja, ABER…” und haben auf jede These und jedes Beispiel ein Gegenbeispiel und einen Grund, warum das Gesagte nicht stimmt. Das Typologiemodell der Metaprogramme besagt nicht, dass jemand immer Gleich- oder Gegenbeispielsortier ist, sondern dass wir in bestimmten Kontexten eher zu einer Seite tendieren - mal mehr, mal weniger. Hier ist eine kurze, unvollständige Liste der unzähligen Metaprogramme:

Bestimmt hast du dich in den obigen Schubladen selber versucht einzusortieren. Genauso tun wir es mit unserem Umfeld – permanent und mit unseren eigenen Schubladen**. Du hast also nicht wirklich eine Wahl, ob du jemanden in eine Schublade stecken möchtest oder nicht. Du kannst aber wählen, dir bewusst zu werden, wann deine Attributionen stattfinden und wie deine Typologien aussehen. Dir ist wahrscheinlich auch klar geworden, dass in allen obigen Typenmodellen kein Mensch wirklich in eine einzige klar abgrenzbare
Typenkategorie passt. Es ist vielmehr eine Mischung vieler Typenmerkmale. Genau hierhin liegt auch die berechtigte Kritik an den Modellen. Sie erwecken den Eindruck, komplexe Persönlichkeiten schnell einer einzigen Kategorie zusortieren zu können, dabei sind es immer nur Tendenzen. Man kann sagen, dass Typenlehren zur Komplexitätsreduktion genutzt werden und weniger psychometrischen Wissenschaftsansprüche erfüllen wollen. Dies ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass sehr viele Menschen diese Modelle kennen und nutzen, um uns darin einzusortieren.
Die Kunst ist es, sich seinem Schubladendenken bewusst zu werden und so den gedanklichen Autopiloten auszuschalten. Wir können unser Umfeld also ohne schlechtes Gewissen in Schubladen sortieren, solange wir uns dessen bewusst sind und die Schubladen offen lassen.
Das mag sich jetzt nach einer harten Aussage und einer Welt voller Vorurteile anhören. Je eher man dies versteht, desto eher kann man die Erkenntnis konstruktiv nutzen – und zwar in zweierlei Hinsicht:
1. Für die Schärfung der eigenen Wahrnehmung bezüglich anderer
Wie oben beschrieben, ist ein großer Schritt in Richtung Klarheit, dass wir uns darüber bewusst werden, wann wir wen in welche Schublade einsortieren. Auf diese Weise können wir die Schubladen offen halten und zusätzliche Facetten wahrnehmen.
2. In Bezug auf die Wirkung von uns auf andere
Da du (nun) verschiedene bekannte Typologiemodelle kennst, ist es einfacher zu erkennen, in welche Schublade du von jemandem gesteckt wurdest. Vielleicht zeigst du in bestimmten Situationen immer nur eine Seite von dir. Welches Bild andere von dir haben, lässt sich besser verstehen, wenn du die Schablonen kennst, in denen sie denken.
Essenz: Schubladendenken und Vorurteile sind im ersten Moment völlig normal. Verstehen wir dies, können wir für die erste Interaktion mit jemandem unrealistische Unbefangenheitsansprüche an uns und unser Umfeld loslassen. Wir können unsere Mitmenschen also seelenruhig in Schubladen sortieren. Hierbei ist wichtig, die Schubladen von uns und unserem Umfeld zu kennen. Wir können dadurch bewusst damit umgehen und die Schubladen offen lassen.
In welche Schubladen wirst du von deinem Umfeld gesteckt und wie hast du das geschafft?
* Erikson, Thomas (2019), Surrounded by idiots, London, S. 191-194.
** Es gibt viele weitere Typologiemodelle wie z.B.:
Das Team-Management-System nach Charles Margerison und Dick McCann, welches sich auf das Verhalten im Arbeitskontext fokussiert.
Die von Carl Gustav Jung entwickelten psychologischen Typen, die durch den Myers-Briggs-Typenindikator erfasst werden können.
Das empirisch fundiertere Fünf-Faktoren- oder OCEAN-Modell
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