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Roten Faden verloren

Aktualisiert: 1. Nov. 2020

Warum suchen alle nach dem roten Faden?


Ob in Vorstellungsgesprächen oder beim Small Talk - oft wird nach dem roten Faden in unserem Leben gefragt - mal direkt und mal subtil. Die zugrunde liegende Frage lautet hier: Was ist die eine Sache die sich im Leben eines Menschens durchzieht?


Manch einer hat hier eine sehr schlüssige Geschichte auf Lager; Andere kommen eher ins Stocken. Das Interessante: Beide haben das richtige Gefühl, denn es ist wichtig zu verstehen, dass die meisten roten Fäden von uns selber oder unserem Umfeld erdacht sind. Hier hinter verbirgt sich der sogenannte Story Bias (von Ralf Dobelli in seinem Buch “Die Kunst des Klaren Denkens” dargestellt):

Unser Gehirn zwängt die komplexe und oft willkürliche Realität in eine konsistente Geschichte. In der Rückschau betrachtet sorgt unser Unterbewusstsein dafür, dass alles Sinn ergibt und kausal zusammenhängt. Unser Denkapparat “tickt” in widerspruchslosen Geschichten - mit der Realität hat das oft wenig zu tun. Der vermeintlich erkennbare rote Faden ist also übertrieben gesagt oft nicht mehr als ein Hirngespinst.

Da wir es uns unterbewusst oft noch leichter machen, gehen wir noch weiter als vermeintliche rote Fäden zu erkennen: Wir reduzieren unsere Mitmenschen auf eine einzige Eigenschaft oder Sache, für die sie in unseren Augen stehen. Das gibt es z.B. in Form von der Kategorisierung in:

  • Berufe: “Thomas der Banker” oder “Marie die Gärtnerin”

  • Charaktereigenschaften: “Der schüchterne Tim” oder “Die laute Sarah”

  • Herkunft: "Peter der Kölsche" etc.

Solange wir diese Geschichten und Überschriften bestätigt sehen, sind wir beruhigt. Menschen scheinen jedoch Schwierigkeiten damit zu haben, wenn sie den dicken roten Faden, oder die eine Sache für die ein Mensch steht, nicht (mehr) identifizieren können. Hierfür gibt es einen Hauptgrund: Vereinfachung der Welt durch eingeschränkte Wahrnehmungsfähigkeit.

Wir können nur einen Bruchteil der Informationen verarbeiten, die unsere Sinne wahrnehmen. Einen Großteil der Realität filtern wir bewusst und unbewusst aus. Um also nicht von einer Überdosis Informationen gelähmt zu werden, denken wir uns einfache Stories aus. Evolutionsbiologisch betrachtet haben diejenigen überlebt, die ihr Umfeld schnell in “gefährlich oder ungefährlich” in “Freund oder Feind” in “verlässlich oder unzuverlässig” sortieren konnten. Es war also von Vorteil sich schnell eine Meinung über jemanden zu bilden. Die Denkmuster unserer Vorfahren lassen uns also schnell über jemanden eine Geschichte bilden um ihn besser einschätzen zu können.

Diese Mechanismen laufen permanent in uns ab. Um uns also in der komplexen und willkürlichen Wirklichkeit zurechtzufinden kreieren wir zur Not einen roten Faden der nicht existiert oder geben einem Menschen eine Überschrift, die nicht zutrifft.


Realität ist jedoch, dass das einzig Konstante - der einzige rote Faden - im Leben eines Menschen der Mensch selber ist. Selbst unsere eigene Vergangenheit ist lediglich die Geschichte, die wir uns selber über unser Leben erzählen.

Wenn wir jedoch jedem die Freiheit geben sich jederzeit neu zu erfinden, macht uns das alle ein Stück freier.

  • Ein Diplom-Klarinettist kann Versicherungsmakler werden...

  • Eine regional verwurzelte Person kann sich plötzlich in der ganzen Welt zu hause fühlen...

  • Ein Vereinsmeier kann vereinslos glücklich werden…

  • Ein Unternehmensberater kann freie Trauungen durchführen…

… und das alles, ohne sich dafür rechtfertigen zu müssen.


Wenn wir realisieren, dass die meisten roten Fäden und Überschriften die wir meinen für jede Biografie zu erkennen nur eine Geschichte unseres Unterbewusstseins sind, können wir bewusster hiermit umgehen.


Mein Appell: Sortiert die Menschen ruhig in Schubladen ein (unser Hirn wird es sowieso tun - wir können es gar nicht verhindern) aber lasst die Schubladen dann offen!


Menschen machen sich nicht unglaubwürdig nur weil sie in unserer eingeschränkten subjektiven Wahrnehmung nicht konsistent handeln. Im Gegenteil - meiner Meinung nach ist jemand nicht automatisch glaubwürdig, nur weil er seit 40 Jahren denselben Job macht. Glaubwürdig ist diejenige, die das tut, was ihr Erfüllung und Glück bringt - und das kann sich mit der Zeit ändern.


Eines der größten Vorteile einer freien Gesellschaft ist schließlich die Möglichkeit sich aus eigener Kraft weiterzuentwickeln - in welche Richtung auch immer.


Doch wie gehen wir damit um, wenn uns jemand nach unserem roten Faden fragt (gehört immer noch zum Standardrepertoire an Fragen in Bewerbungsgesprächen)?

Wir wissen ja jetzt, dass es den Faden gar nicht gibt und können daher die Frage einfach anders interpretieren: Die Person bittet uns eigentlich darum ihr eine interessante Geschichte zu erzählen. Im Grunde ist es also ein Storytelling-Test. Wenn wir es als solchen sehen und uns nicht damit befassen, ob die Geschichte rational betrachtet tatsächlich konsistent und widerspruchslos ist, wird das Gespräch deutlich einfacher. Ohne das wir Lügen müssen, erkennt das Gegenüber auch in “krummen Lebensläufen” durch eine gute Geschichte eine klare Linie. Genauer betrachtet gibt es eigentlich ausschließlich “krumme Lebensläufe”; der einzige Unterschied besteht in der Qualität der Story. Warum krumme Lebensläufe immer noch nicht so gerne gesehen werden, erklärt sich wahrscheinlich ausschließlich dadurch, dass noch zu wenige Menschen diesen bahnbrechenden Artikel gelesen haben...


Ist es nicht eigentlich eine große Stärke sich zu verändern und weiterzuentwickeln? Sich einer neuen, unbekannten Herausforderung zu stellen verdient doch eigentlich größten Respekt oder? Trotzdem hadern wir damit, wenn wir den vermeintlich vorhanden roten Faden oder die einmal gesetzte Überschrift in jemandem nicht mehr zu 100% wiedererkennen.


Wenn wir jedoch realisieren, dass der rote Faden in der Biografie unseres Gegenübers nicht vorhanden sein muss, dann befreit uns das auch selbst vom Zwang unsere eigene Lebensgeschichte so weiterzuschreiben, wie wir meinen, dass sie aufgrund des roten Fadens unserer Vergangenheit verlaufen müsste.

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