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Der Ausnahmefall

Aktualisiert: 14. Okt. 2023

In einem großen Konzern wurde eine neue IT-Anwendung gebraucht, die von über 100.000 Mitarbeitern genutzt werden sollte.

Alles war bereit: Budgets waren freigegeben und die Entwicklungsexperten standen in den Startlöchern, als eine Stimme aus dem Unternehmen laut wurde: Das Projekt seie von Grund auf schlecht aufgesetzt und würde nichts bringen, da es nicht von allen Anwendern genutzt werden könnte.

Eine kurze Analyse zeigte folgendes: Vier der über 100.000 Mitarbeiter verwendeten das Betriebssystem Linux. Auf diesem Betriebssystem würde die Software nicht laufen. Wegen 0,004% der Fälle wurde um ein Haar das gesamte Vorhaben gestoppt. Anstatt zu sehen, dass über 99% der Regelnutzer ein funktionierendes Programm bekommen würden, wurde sich auf ein paar Spezialfälle fokussiert, die eine Sonderlocke bräuchten. Das komplette Vorhaben wurde an seinen Ausnahmen bewertet.

Warum neigen wir dazu, Optionen an ihren Ausnahmen zu bewerten:

  • Ausnahmen stechen heraus

Uns fällt das auf, was nicht in die Norm passt, und daher verschiebt sich auch der Fokus in der Entscheidung hierauf.

  • Verlustaversion

Haben die Ausnahmen zu irgendeiner Entscheidung mit Verlust zu tun, neigen wir zu einem Denkfehler. In der Ökonomie und Psychologie ist bekannt, dass Menschen dazu neigen, Verluste deutlich höher zu gewichten, als Gewinne. Der Schmerz eines Verlustes ist aus psychologischer Perspektive doppelt so stark, wie die Freude eines Gewinns (Kahneman, D., & Tversky, A. (1977). Prospect Theory. An Analysis of Decision Making Under Risk.). Wir halten daher grundsätzlich stärker an dem fest, was wir haben, als nach Neuem zu greifen. Diese Tendenz wird sogar stärker, je größer die Auswirkungen einer Entscheidung sind (Tay, Shu Wen; Ryan, Paul; Ryan, C Anthony (2016-10-18). “Systems 1 and 2 thinking processes and cognitive reflection testing in medical students”. Canadian Medical Education Journal. 7 (2): e97–e103.).

Kurz gesagt: Wir verhalten uns irrational, sobald Unsicherheiten im Spiel sind, und Unsicherheiten bestehen überall da, wo Ausnahmen zum Normalfall unvorhergesehen passieren können.

Zu jeder Regel gibt es eine Ausnahme, wenn wir nur tief genug reingehen oder den Kontext groß genug definieren. Bei der Entscheidungsfindung ist die Kunst, nicht in Perfektionismus zu verfallen, sondern pragmatisch zu denken. Erschlägt mein Lösungsansatz 90% der Fälle und ist dabei noch preiswert? Klasse! Die verbleibenden 10% Ausnahmefälle, kann ich mir dann noch anschauen. Vielleicht gibt es hierfür einen gesonderten Ansatz. Vielleicht muss ich sie auch gar nicht lösen.

Nicht nur im Vorhinein, sondern auch rückwirkend dürfen wir Entscheidungen nicht nur an ihren Ausnahmen bewerten. Geht etwas schief, heißt das nicht gleich, dass dein grundsätzlicher Ansatz nicht gut gelaufen ist. Folgendes Beispiel beschreibt treffend, was ich meine:

Wenn ich ein Haus baue oder kaufe, möchte ich fließend Wasser haben. Für den Ausnahmefall eines Wasserrohrbruchs, habe ich folgende Handlungsoptionen:

  • Mir könnte im Vorhinein einfallen, dass ja eventuell ein Wasserrohr brechen könnte. Deswegen könnte ich komplett auf Wasserleitungen im Gebäude verzichten. Wahrscheinlich etwas übertrieben.

  • Ich könnte für den Fall der Fälle beim Bau alle Wände von innen und außen mit einer wasserdichten Silikonschicht überziehen - was etwas überzogen wäre.

  • Ist ein Wasserrohrbruch aufgetreten kann ich darüber schimpfen, dass alles schlecht geplant war und dass man das Bauwerk grundsätzlich hätte anders aufsetzen müssen. Ach ja: Die unfähigen Handwerker sind natürlich alles Schuld, weswegen ich sie verklage. Ob das wirklich weiterhilft ist fraglich.

  • Ich akzeptiere, dass es in Ausnahmefällen zu einem Wasserschaden in einem Haus kommen kann, wenn ich fließendes Wasser installiere. Im Verhältnis zu der Zeit, in der die Wasserleitungen einwandfrei funktionieren, ist der Ausnahmefall unbedeutend. Im Vergleich zum Regelfall, in dem ich großen Nutzen und Freude durch sauberes Trinkwasser erhalte, ist diese Ausnahme verkraftbar.

Beim Wasserrohrbruch wird uns klar, dass letztere Option, die einzig pragmatische Herangehensweise ist. Wir verstehen, dass wir unsere Möglichkeiten nicht ausschließlich an ihren Ausnahmen bewerten können. Das gilt für den Hausbau genauso wie für Prozessdefinitionen in Unternehmen, die Auswahl des Urlaubsortes oder den Kauf eines Fahrrades.

Essenz: Wir dürfen Optionen nicht ausschließlich an ihren Ausnahmen bewerten. Unsere Tendenz dazu, Ausnahmen als besonders starkes Entscheidungskriterium zu sehen, dürfen wir dennoch nutzen, denn sie kann uns wichtige Perspektiven eröffnen. Die Kunst ist es, den Fokus von den Sonderfällen wieder in Perspektive zum Normalfall zu setzen und ins Handeln zu kommen.

Bei welchen Entscheidungen bist du übermäßig auf den Ausnahmefall fokussiert?

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