Heidi - so hieß sie. Heidi war die Zwillingsschwester meiner Mutter und ist eine prägende Figur in meinem Leben.
Heidi wurde 39 Jahre alt und starb wenige Tage vor meiner Einschulung an Krebs. Obwohl ich noch Kind war und wir nur 6 gemeinsame Jahre zusammen hatten, hat sie mich nachhaltig beeinflusst. Ich höre noch heute ihre liebende Stimme “Na Sportsfreund?” sagen. Ich kann sie noch riechen und weiß noch, wie sie sich anfühlte.
Doch warum erzähle ich von Heidi? Weil ich jedes Mal, wenn ich daran denke, dass ihr nicht mehr Zeit auf diesem Planeten vergönnt war, unendlich dankbar bin, am Leben zu sein. Dieses Gefühl ist sehr kraftspendend und treibt mich täglich an - deshalb ist es der Rede wert. Es ist nicht das Gefühl von “Puh, zum Glück ist mir das nicht passiert”, sondern echte Dankbarkeit. Dankbarkeit dafür, dass ich sie überhaupt kennenlernen durfte. Dankbarkeit für die gemeinsamen Stunden. Dankbarkeit für die Gesundheit von mir und meinen Liebsten. Aber die Dankbarkeit geht noch weiter: Heidis Tod gibt mir Hoffnung - die Hoffnung, vielleicht das ein oder andere Leben eines Menschen berühren zu können - so wie sie meins berührt hat. Um zu verstehen, warum das so ist, möchte ich dich gerne in die letzten Wochen vor ihrem Tod mitnehmen:
Im August 1996 sollte ich eingeschult werden. Einige Wochen vorher war Heidis Krebs schon so stark, dass sie im Krankenhaus lag. Die Chemotherapien hatten sie sehr geschwächt und sie verlor ihre Haare (was als Kind schwer zu verstehen war). Wir besuchten sie regelmäßig und ich glaube, dass sie sich der Ernsthaftigkeit der Situation nicht wirklich bewusst war. Als Patentante wollte sie meine Einschulung unbedingt begleiten. Es war jedoch abzusehen, dass sie dazu nicht in der Lage sein würde. Heidi und meine Mutter beschlossen also den Tag mit der Kamera festhalten zu lassen. Heidi war beruhigt, da sie sich sicher war, das Video im Krankenhaus anschauen zu können, um auf diese Weise Anteil zu nehmen. Sie hat das Video nie gesehen. Sie starb einige Tage vor meiner Einschulung in den Armen meiner Mutter. Mein erster Schultag sollte ihre Beerdigung sein.
Ich denke bis zum heutigen Tag sehr oft an Heidi. Vor allem wenn ich im Wald unterwegs bin, erinnere ich mich an sie. Was ich heute noch spüre, ist Heidis Anteilnahme an meinem Leben. Ich denke, das ist der Grund, warum ich mich ihr auch ein Vierteljahrhundert später noch so verbunden fühle. Sie war ehrlich an meiner Entwicklung interessiert und wollte daran teilhaben. Ganz bewusst teilnehmen zu wollen an meinem Leben, setzt ihre bewusste Anteilnahme am eigenen Leben voraus. Diese Lust, am Leben aktiv zu partizipieren, hat sie mir geschenkt. Die Tatsache, dass mich ihre Anteilnahme an meinem Lebensweg heute noch bewegt, gibt mir die Hoffnung, dass ich dieses Gefühl, diese Kraft ebenfalls weitergeben kann. Ich bin dankbar für die Hoffnung, einen kleinen Anteil am Leben anderer Menschen zu haben und sie dadurch vielleicht sogar zu motivieren.
Heidis Tod ist außerdem eine große Triebfeder für mich, da ich mich oft frage, was sie wohl für ein paar Jahre mehr auf diesem Planeten geben würde. Hierdurch wird mir immer wieder bewusst, wie glücklich man sich schätzen kann, am Leben zu sein - Anteil am Leben nehmen zu können.
Solltest du also mal motivationslos sein, dann frage dich vielleicht, was deine verstorbenen Liebsten dafür gegeben hätten, weiter in Gesundheit leben zu können (so, wie du es gerade kannst). Dieses Bewusstsein über das unglaubliche Geschenk des Lebens relativiert fast alle Probleme und Motivationslöcher. Wenn wir echte Dankbarkeit empfinden, ist es nahezu unmöglich, gleichzeitig sauer oder wütend zu sein oder sich über Belanglosigkeiten zu ärgern.
Im Angesicht des Todes werden die meisten Dinge ohnehin zu Belanglosigkeiten. Woher ich das weiß? Weil ich jeden Tag ein bisschen sterbe. Wie wir alle. Jede gelebte Minute kommt nicht mehr zurück und bringt uns näher an unseren Tod.
Auf Beerdigungen hatte ich immer das Gefühl, dass der Verstorbene in dieser Situation sehr erhaben und den trauernden Gästen überlegen ist. Überlegen in dem Sinne, dass er über den Dingen steht und von den Problemen der Menschen nicht berührt ist.
Vor dem Grab toben Gefühle - die Welt der Angehörigen wird in den Grundfesten erschüttert - stille Tränen - lautes Schluchzen - markerschütterndes Wehklagen - und der Tote? Ruhig, friedlich und gleichmütig.
Die verstorbene Person liegt in tiefem Frieden da und trägt eine Weisheit in sich, die nur derjenige erfahren kann, der wirklich erlebt hat, wie endlich das Leben ist.
Ich versuche mich seit Kurzem daher in folgender Übung: Wenn ich auf ein Problem stoße, dann Frage ich mich, ob ich dieses Problem mit einem Menschen besprechen würde, der nicht mehr lange zu leben hat. Oft relativiert sich das Problem direkt, weil mir bewusst wird, wie anmaßend es wäre, in Anbetracht des Todes über solche Belanglosigkeiten zu sprechen.
Ist es wirklich ein Problem für mich, dass meine Partnerin Tassen hortet und ich am liebsten keine einzige in unserer Küche hätte? Würde ich mit Heidi hierüber sprechen? Oder darf ich einfach tief dankbar dafür sein, Anteil am Leben einer Tassenliebhaberin haben zu dürfen?
Aus dem Tod von geliebten Menschen habe ich vor allem zwei Sachen gelernt:
Unendliche Dankbarkeit für das Leben. Jeden Tag. Aktive Teilnahme am Leben (am eigenen und dem unserer Mitmenschen) ist das, was zählt - das, was bleibt.
Die meisten unserer Probleme sind Belanglosigkeiten im Angesicht des Todes - und wir sterben alle - jeden Tag ein bisschen.
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