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Die Sache mit der Berufserfahrung

Mit ein paar Verbündeten treffe ich mich regelmäßig zum Austauschen von Impulsen. Abwechselnd bringen wir uns in diesem kleinen Netzwerk gegenseitig unser Wissen bei. Vor einigen Monaten saßen wir an der Planung unseres nächsten Treffens. Wir fragten Harald, der die Runde diesmal leiten würde, wie viel Zeit wir benötigen. Er dachte kurz nach. „Normalerweise geht das Training vier Tage lang, mit euch brauche ich zwei – ohne auf Wichtiges zu verzichten“.


Wie kann das sein? Sind wir alle einfach unglaublich intelligent? Schön wäre es… Es liegt am gemeinsamen Modus. Treffen wir uns, sind wir alle hochfokussiert, ausgeschlafen und vorbereitet. Die Intensität, mit der wir unsere Zeit verbringen, macht den Unterschied.


Qualität vor Quantität! So banal. So altbekannt. Und dennoch so verkannt. Wenn es um das Thema Zeit geht, habe ich das Gefühl, dass wir diese Erkenntnis oft ignorieren. Ein Seminar, das 3 Tage geht, muss doch höherwertiger sein als ein 2-tägiges – richtig? Je größer das Problem, desto länger muss auch die Besprechung sein, in der man es löst – richtig? Jemand mit mehr Berufserfahrung ist besser als jemand mit weniger Berufserfahrung – richtig?

Eins ist klar: Wenn diese Aussagen stimmen, dann nicht rein aufgrund der zeitlichen Komponente in den Vergleichen.

Die Frage ist nicht, wie viel Zeit du investierst. Die Frage ist: Wie fokussiert, wach und aufnahmefähig bist du in dieser Zeit? Wie dicht sind die (Lern-) Erfahrungen, die du in einer bestimmten Zeit machst?

Jemand, der 3 Jahre lang konzentriert Projekte geleitet hat, ist als Projektmanager viel geeigneter als jemand, der 20 Jahre mit freizeitorientierter Schonhaltung in Projekten mitgewirkt hat. Nur weil jemand viel Zeit seines Lebens in einer Branche oder einer Firma verbracht hat, heißt das nicht, dass diese Person auch viel zum Unternehmenserfolg beiträgt.

Selbstverständlich übertrumpft jemand mit 20 Jahren relevanter und intensiver Berufserfahrung jemanden mit nur 5 Jahren der Erfahrung gleicher Relevanz und Intensität um ein Vielfaches. Die rein quantitative Anzahl abgeleisteter Stunden oder Jahre in einer Branche sagen jedoch nichts aus. Relevant ist die Qualität der gemachten Erfahrungen.


„Damit befasse ich mich schon seit Jahren“ ist erstmal eine rein quantitative Aussage, ohne Aufschluss über den Aufbau von Fähigkeiten oder Erfahrung zu geben. Es ist, als würde ein Angler sagen: „Ich sitze schon seit Tagen an diesem See“. Wir wissen nicht, wie viele Fische er gefangen hat; welche Köder benutzt wurden; wie passend seine sonstige Ausstattung war; ja wir wissen noch nicht einmal wie viele, geschweige denn, ob er überhaupt irgendwelche Angeln ausgeworfen hat.


Stellen wir für eine unbekannte Gruppe einen Zeitplan auf, gehen wir von einer Art Durchschnittsintensität aus, mit der die Beteiligten teilnehmen werden. Da wir noch keine Erfahrungswerte haben, bleibt uns gar nichts anderes. Sind beispielsweise 4 Stunden für eine Besprechung geplant, dann gehe ich von der Standard-Leistungs- und -Aufnahme Bereitschaft der Anwesenden aus. Zeitangaben berücksichtigen normalerweise nicht die individuelle Intensität, mit der wir antreten.


Meine Beobachtung ist, dass wir das Intensitätslevel mit dem wir gemeinsam Zeit verbringen oft als gegeben hinnehmen. Das gilt besonders für Gruppen, die schon länger zusammenarbeiten. Die Qualität der gemeinsamen Zeit ergibt sich sozusagen aus der gemeinsamen Interaktion. Ich bin davon überzeugt, dass dieses Level nicht in Stein gemeißelt ist. Wir können darüber verhandeln, wie intensiv unsere Zeit als Team gelebt wird, auch wenn das selten passiert.

Wie das konkret aussehen kann, lässt sich im Sport gut beobachten. Unser Football-Coach hat uns beispielsweise einen Tag vor jedem Spiel in Erinnerung gerufen, dass wir am nächsten Tag „spielbereit“ erscheinen dürfen. Das hieß konkret: Gut ausgeruht, ausgewogen ernährt (nicht zu satt, nicht zu hungrig), hydriert und mit spitzem Fokus. Kurz: Bereit für intensive Zeit.

Außerhalb des Sports können wir es ähnlich handhaben. „Wir treffen uns morgen früh topfit und gehen das Thema mit Laserfokus 45 Minuten lang an.“, könnte eine Einladung an das Team lauten.


Heißt das jetzt, dass wir immer hyperfokussiert auftreten müssen? Diese rhetorische Frage kannst du natürlich mit Nein beantworten. Wir dürfen uns aber schon dessen bewusst sein, dass der Zustand, in dem wir antreten relevant dafür ist, wie viel Zeit wir für etwas benötigen. Wir haben es zu einem großen Teil in der Hand, wieviel Zeit wir zum Aufbau von Fähigkeiten und Erfahrungen benötigen.


Das Bereitsein für intensive Zeit darf dann noch auf die richtige Gelegenheit treffen. Ob und wie wir z. B. in unserem Job möglichst relevante Erfahrung sammeln können, hängt nicht nur mit unserer Leistungsbereitschaft, sondern auch mit dem Zufall zusammen. Uns müssen die richtigen Herausforderungen zufallen, damit wir sie ergreifen können - und darauf haben wir nur bedingt Einfluss. Wir können uns allerdings schon bewusst in Kontexte begeben, in denen die Chancen besonders hoch sind, wichtige Erfahrung aufbauen zu können.


Essenz: Geht es um den Aufbau von Fähigkeiten und das Sammeln von Erfahrungen, dürfen wir die investierte Zeit nicht quantitativ bewerten. Relevant ist die Intensität der eingesetzten Zeit. Hierfür dürfen wir im richtigen Modus antreten: Hochfokussiert, ausgeruht und vorbereitet. Ergibt sich dann noch die richtige Gelegenheit, verdichtet sich die Relevanz jeder einzelnen Minute. Gerade beim Investieren von Zeit, gilt: Qualität vor Quantität.



Wo betrachtest du Erfahrung eher als Zeiteinheit und nicht aus qualitativer Perspektive?

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