Ich starre auf die ersten Seiten meines Jazz-Improvisationsbuchs. Beim Ausmisten bin ich zufällig darüber gestolpert. Es war das Beginner-Heft, mit dem ich meine ersten Improvisationsversuche auf dem Saxofon unternommen habe. Es muss mindestens 15 Jahre her sein, als ich es das letzte mal in der Hand hatte.
Seit Jahren versuche ich, im Jazz Fortschritte zu machen, doch irgendwie komme ich über einen bestimmten Punkt in der Improvisation nicht hinaus. Ich will frei über alle Akkordfolgen improvisieren können, doch irgendetwas fehlt mir dazu.
Und hier stiert mir die Lösung direkt in die Augen: Grundlagentheorie mit Übungen zu jedem denkbaren Akkord, verständlich geschrieben und auf drei Seiten zusammengefasst. Hätte ich mir damals - als pubertierender Jugendlicher - die Zeit genommen, diese ersten Seiten zu studieren, ich wäre an einem völlig anderen Punkt. Also starre ich auf das Heft - fassungslos und amüsiert.
Haben wir uns eine bestimmte Zeit mit etwas befasst, wird es schwieriger, unser Grundlagenverständnis von etwas zu überdenken. Mein Glaube war, dass Jazz-Improvisation viel mit künstlerischem Können zu tun hat, welches die Lücken in der Harmonielehre ausgleicht. Je länger ich mit dieser Annahme Musik machte, desto mehr festigte sie sich.
Die investierte Zeit in das solide Lernen von Grundlagenfähigkeiten zahlt sich aus. Wir investieren eine Stunde Aufwand zu Beginn für tausende Stunden Freude in der Zukunft. Mit jeder einen Minute, die wir aufbringen, um etwas grundlegend zu verstehen, ersparen wir uns hunderte Stunden Kopfschmerz später. Anstatt bei jedem Jazzstandard mühevoll immer wieder die einzelnen Akkordtöne rauszusuchen, erkenne ich zum Beispiel bestimmte Akkordfolgen und kann direkt viel freier spielen.
Im Jazz sind es Akkordfolgen, im Fussball das Techniktraining, beim Programmieren von Software ist es das Lernen von Codesprachen und das Verstehen von Anwendungsarchitekturen. Das alles ist nicht unbedingt aufregend, aber umso ertragreicher, wenn man es beherrscht.
Anders gesagt: Sich mit den fundamentalen Eigenschaften und Prinzipien von etwas zu befassen, gibt uns eine unerschütterliche Basis. Je breiter und stabiler diese ist, desto höher können wir das Gebäude unserer Fähigkeiten später bauen. Bauwerke sind ein hervorragendes Sinnbild für diese Erkenntnis. Ist die Basis lückenhaft, werden wir ab einer bestimmten Höhe des Konstruktes nicht mehr aus dem reparieren von Dingen rauskommen. Aus unserer Wohnung können wir dabei zuschauen, wie neue Wolkenkratzer in die Frankfurter Skyline gebaut werden. Ist die Baugrube einmal ausgehoben, dauert es eine gefühlte Ewigkeit, bis sich irgendein Fortschritt erkennen lässt. Sind die Fundamente und die wesentliche Infrastruktur mal fertig, schießt das Hochhaus förmlich in die Luft. Auch beim Bau wird sich Zeit für die Basis genommen.
Zu Schulzeiten mag es noch "cool" gewesen sein, sich in Fächern irgendwie durchzumogeln - à la: "Ich habe überhaupt nichts verstanden und bin trotzdem durch die Prüfung gekommen". Das ist im Kontext Schule auch in Ordnung, weil wir die Themen dort nicht wirklich wählen können. Einmal aus der Schule raus, haben wir die freie Wahl darüber, mit was wir uns befassen. Wenn sich erwachsene Menschen dann immer noch irgendwie durchmogeln, ist das daher weniger "cool". Es gibt ganze Ratgeber über "souveränes Auftreten bei völliger Ahnungslosigkeit". Ist es nicht viel spannender, Ahnung von etwas zu haben? Darf es nicht unser Anspruch sein, die Dinge, mit denen wir uns befassen, so gut es geht zu durchdringen? Dem Selbstwertgefühl tut das sicherlich gut. Das jugendliche Gefühl, Streber zu sein, kehrt sich in ein Gefühl von Souveränität.
Wir dürfen uns ganz bewusst Zeit und Raum für das Durchdringen der wesentlichen Zusammenhänge von etwas nehmen.
"Go slow to go fast" ist die Devise, wenn wir eine neue Fähigkeit aufbauen. Hab den Mut dir hierfür die Zeit zu nehmen, die es wirklich braucht. Versuche, dich beim Lernen von Elementarwissen nicht zu beeilen, gib dich nicht damit zufrieden, es halbwegs verstanden zu haben. Es wird dich einholen. Irgendwann starrt dir diese Nachlässigkeit dann ins Gesicht - aus einem Jazzimprovisationsbuch für Anfänger.
Beginnen wir mit etwas Neuem, sind ursprüngliche Quellen die beste Adresse, um unser Können aufzubauen. Wir dürfen uns z. B. mit Originalliteratur befassen - den Klassikern. Außerdem können wir Kontakt mit Urhebern, Erfindern, Pionieren und Experten auf dem Gebiet aufnehmen, um die Ideen im Ursprung zu verstehen. Es lohnt sich, in Originale zu investieren, auch wenn das aufwendig sein mag.
Essenz: Sich mit den fundamentalen Eigenschaften und Prinzipien von etwas zu befassen, gibt uns eine unerschütterliche Basis. Je breiter und stabiler diese ist, desto leichter fällt uns das Weiterkommen. Für das Durchdringen der wesentlichen Zusammenhänge dürfen wir uns Zeit und Raum nehmen, da uns Nachlässigkeiten hier später einholen werden. Hierfür starten wir am besten bei Originalen, Klassikern und den Urhebern für das jeweilige Thema.
Bei welchen Grundlagen hast du noch Lücken?
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