Siehst du dich von Zeit zu Zeit gerne als selbstlos, uneigennützig - als Altruisten, der anderen aufopfernd hilft, ohne etwas dafür zu bekommen? Willkommen im Klub! Wir alle mögen diese Eigenschaften, da wir glauben, dass die Welt ohne Selbstlosigkeit eine Ansammlung unerträglicher Egoisten sei. Tatsächlich ist es jedoch so, dass wir im Grunde alles, was wir tun, immer nur für uns selbst tun.
Stell dir vor, du gehst im Winter an einem zugefrorenen See bei bitterlicher Kälte alleine spazieren. Du siehst ein Kind auf dem Eis laufen, als es plötzlich in das eiskalter Wasser einbricht und zu ertrinken droht. Weit und breit ist kein anderer Mensch zu sehen.
Was tust du jetzt und warum?
Wenn du so tickst wie die meisten Menschen, wirst du versuchen, es zu retten. Doch warum? Springst du in das eiskalte Wasser und begibst dich selbst in Lebensgefahr des Kindes wegen? Nein! Dein wahrer Beweggrund ist das schlechte Gewissen, das du den Rest deines Lebens mit dir rumtragen würdest, wenn du nicht geholfen hättest - schließlich hast du es mitbekommen und warst die einzige Person in der Nähe.
Falls du jetzt denkst: “Nein! Ich würde einzig und alleine aus Nächstenliebe helfen und es nur für das Kind tun”, ist folgender bekannter Fall aufschlussreich:
1989 brachen 3 Jungen im Olympiasee in München im Eis ein und ertranken. 20 Passanten schauten eine halbe Stunde lang untätig dabei zu und das, obwohl der See nur 1,10 Meter tief war. Wie kann so etwas passieren, obwohl wir uns alle gerne als selbstlose Helfer sehen?
In Notfallsituationen stellt sich die Anwesenheit anderer Menschen als Hindernisfaktor heraus. Hierfür gibt es zwei Gründe:
Pluralistische Ignoranz: Eine Beobachtung aus der Sozialpsychologie, die erklärt, dass jeder einzelne Beobachter annimmt, es bestünde kein Notfall, da kein anderer Beobachter betroffen wirkt oder Anzeichen von Panik zeigt. Also schon beim Beobachten von Notlagen anderer hält unser altruistisches Selbstbild nicht stand.
Verantwortungsdiffusion: Eine Erkenntnis aus der Psychologie, die besagt, dass die Anwesenheit vieler Zeugen die Chance verringert das jemand handelt. Jeder denkt sich: “Warum sollte ausgerechnet ich helfen, es sind doch genug andere Menschen hier”. Unsere vermeintliche Selbstlosigkeit endet also da, wo viele Zeugen sind.
Sind andere Menschen bei einem Notfall zugegen, müssen wir uns später keinen Vorwurf machen, nicht geholfen zu haben, da ja andere waren, die auch hätten helfen können. Es geht uns also im Kern nur um uns. Es geht um das eigene Empfinden, das eigene Gewissen - nicht um die Person, der wir helfen könnten.
Nicht falsch verstehen - Altruismus, Selbstlosigkeit und Nächstenliebe sind Ideale, nach denen wir streben können, aber mehr auch nicht. In vielen Religionen und spirituellen Lehren ist die Überwindung des Egos ein zentrales Element. Doch nur Tote scheinen dies wirklich erreicht zu haben. Ein Mensch ohne Ego - eine selbstlose Person im wahrsten Sinne des Wortes - würde schlicht nicht überleben. Eine Annäherung zu Selbstlosigkeit ist zu Lebzeiten vielleicht möglich, im Kern tun wir jedoch alles nur für uns selbst.
Es muss nicht unbedingt um Leben und Tod gehen, um zu verstehen, dass wir hauptsächlich für uns selber handeln. Nehmen wir zum Beispiel das Schenken. Tun wir das nicht ausschließlich für den Beschenkten? Schließlich bekommt die Person ja etwas von uns und nicht umgekehrt - oder? Schauen wir hier genauer hin, dürfen wir feststellen, dass es ebenfalls nur um uns geht - denn wir haben etwas davon: Das Gefühl, jemandem eine Freude bereitet zu haben; das Gefühl spendabel zu sein; das Gefühl, jemandem etwas Gutes zu tun. Nur hierum geht es im Kern. Würden wir diese Gefühle nicht haben, hätten wir überhaupt gar keine Motivation zu handeln - in diesem Falle zu schenken. Kinder wissen dies noch ganz genau. Schenkt man kleinen Kindern etwas, nehmen sie es an, freuen sich und sprechen kein Danke aus - warum auch? “Die dicke Tante hat sich doch gefreut, als sie mir den Teddy geschenkt hat.” denkt sich das Kind. Erst durch Erziehung werden Kinder dann darauf dressiert, sich zu bedanken. Was sie nicht artikulieren können, aber unterbewusst denken ist: “Warum soll ich mich jetzt dafür bedanken, dass sie sich selbst eine Freude beschert hat. Eigentlich müsste es umgekehrt sein - sie darf sich bei mir bedanken, dass ich als Mittel zum Zweck für ihre Bedürfnisbefriedigung zur Verfügung stand.” Und in der Tat ist es genauso. Die Tante hat ihr Ziel erreicht, da sie sich spendabel fühlt und ihren Wunsch danach befriedigt hat, einen Einfluss auf das Leben des Kindes genommen zu haben. Das obligatorische Danke ist nichts anderes als zusätzliche Tanten-Ego-Streichelei - und da machen Kinder ungern mit.
Wir halten jemandem die Tür auf, damit wir uns höflich, respektvoll oder zuvorkommend fühlen können - oder weil wir auf andere so wirken wollen. Wir tun es nicht, um der Person das Eintreten zu erleichtern.
Wir engagieren uns für wohltätige Zwecke, damit wir uns barmherzig und gütig fühlen können - oder weil wir auf andere so wirken wollen. Wir tun es nicht, um anderen Personen zu helfen. Oder warum sollten Menschen sonst überhaupt darüber sprechen, dass sie etwas spenden oder gar eine Stiftung nach sich selbst benennen? Im Grunde ein großer Ego-Trip.
Auch Kinder bekommen wir nicht, weil wir selbstlose Hüllen sind, die den Fortbestand der Menschheit retten. Wir bekommen Kinder, weil wir sie in unserem Leben haben wollen; weil wir die Rolle von Mutter oder Vater durchleben möchten; weil wir etwas schaffen möchten, was nach uns weiterlebt. Es gibt immer wieder Eltern, die ihren Kindern im Alter vorwerfen, sie würden sich nicht genug um sie kümmern, und das, obwohl sie ja auf so vieles in ihrem eigenen Leben verzichtet hätten, um sie großzuziehen. Zur Erinnerung: Eltern wird man für sich selbst, nicht für seine Kinder. Unsere Kinder sind uns daher nichts schuldig. Und wer Kinder bekommt, um im Alter versorgt zu sein, bestätigt, dass wir alles nur für uns selbst tun.
Die Erkenntnis, dass wir die Dinge immer nur für uns selbst tun, ist sehr wertvoll, da wir uns von der Erwartung befreien können, dass irgendjemand uns etwas schuldig wäre. Tue ich das, was ich tue, immer in vollem Bewusstsein, dass ich es im Grunde immer nur für mich selbst tue, kann ich auch von niemandem etwas im Gegenzug erwarten. In Handelsbeziehungen macht Reziprozität - also: Ich gebe etwas und erwarte dafür etwas zurück - natürlich Sinn. Hier sind die Situationen gemeint, in denen ich etwas tue und unausgesprochen die Erwartung habe, im Gegenzug etwas zurückzubekommen, weil ich es vermeintlich nur für die andere Person getan habe. Wir wissen jetzt, dass das nicht stimmt. Übrigens bekommen wir tatsächlich etwas wieder, wenn wir vermeintlich etwas nur für andere tun - nämlich das Gefühl, etwas für andere getan zu haben. Hierin liegt die Motivation. Enttäuschung setzt Erwartung voraus. Du wirst in deinem Leben weniger enttäuscht, wenn du für deine Aktionen keine Gegenleistungen erwartest, da du deine Handlungen für dich ausübst und hierin schon die Belohnung liegt.
Essenz: Alles, was wir im Leben tun, tun wir immer nur für uns selbst. Diese Erkenntnis ist befreiend, da sie uns von den eigenen und den Erwartungen anderer befreit. Das heißt nicht, rücksichtslos durch die Welt zu gehen, sondern viel eher die Illusion zu durchschauen, ein selbstloser Mensch sein zu können. Sind wir uns unserer wahren Motive bewusst, können wir unser Leben klarer gestalten.
Wann hast du das Gefühl, etwas nur für andere zu tun? Welches Ziel verfolgst du damit eigentlich?
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